Beyond Recruiting - Ist Binden wirklich das neue Finden?

Nun ja, eine gewisse Wahrheit steckt natürlich hinter der Behauptung, dass Mitarbeiterbindung das neue Recruiting ist: Während Recruiting ein sehr kostenintensiver, zeitaufwendiger Prozess ist und in Zeiten des Fachkräftemangels teilweise große Herausforderungen birgt, tritt Retention mit deutlich weniger Ressourcenaufwand in den Ring. Darüber hinaus hat ständiges Recruiting neben dem enormen offensichtlichen Kostenaspekt auch noch weitere Faktoren, die viel zu selten berücksichtigt werden und die durch Mitarbeiterbindung abgefangen werden können, wie z. B. der Verlust von wertvollem internen Wissen, die Unterbrechung des Arbeitsflusses oder das zeitaufwändige Einarbeiten von neuen Teammitgliedern.

Wer gesunde, zufriedene und leistungsstarke Mitarbeiter:innen im Unternehmen hat, hat eine geringere Fluktuation und muss folglich weniger nachbesetzen. Jedoch ist eine Symbiose von neuen Talenten, die frischen Wind ins Unternehmen bringen und das langfristig Binden und Fördern bestehender Mitarbeiter:innen essentiell, um vollen Erfolg zu erzielen. Aber zurück zum Binden …

Unternehmen setzen verschiedene Maßnahmen ein, um Mitarbeiter:innen zu binden. Allerdings hält sich der Mythos hartnäckig, dass es einen fancy Jobtitel, einen Firmenwagen oder monetäre Anreize braucht, damit die Zufriedenheit rauf- und die Fluktuation runtergeschraubt wird.

Was tun Unternehmen bislang, um Talente zu binden?

Obstkörbe, Wasser- & Kaffee-Flat und der obligatorische Kickertisch – dass das nicht das Nonplusultra zur nachhaltigen Mitarbeiterzufriedenheit ist, sondern eher ein Hygienefaktor ist, ist schon seit den 60ern kein Geheimnis mehr (vgl. Herzberg, 1968,1987). Doch was brauchen Mitarbeiter:innen wirklich, um sich wohlzufühlen, zufrieden und leistungsstark ihrer Tätigkeit nachzugehen und somit nachhaltig zum Unternehmenserfolg beizutragen? In vielen Organisationen sprießen mittlerweile Feelgood Manager, Corporate Happiness Beauftragte oder auch Chief Fun Officers aus dem Boden der Business-Welt. Können sie die Bindung an das Unternehmen stärken?

Feelgood Manager zum Beispiel können sehr wohl eine positive Rolle spielen, jedoch stoßen sie schnell auf ihre Grenzen, wenn “Feelgood” bloß die oberflächlichen Aspekte des Wohlbefindens meint.

Kostenlose Snacks oder Wellnessangebote sind etwas Feines – jedoch wird Tom nicht im Unternehmen bleiben, nur weil es leckere Snacks gibt, wenn er sonst sinnlosen Tätigkeiten im Job nachgeht. Jenny wird nicht auf einmal aufblühen, weil es vergünstigte Massageangebote gibt, wenn sie sich sonst von der Führungskraft nicht gesehen fühlt. Oder hast du dir schonmal gedacht: “Ich bin zwar unglücklich im Job, aber hey, der hippe Obstkorb reißt es wieder raus?” Vermutlich nicht…

Feelgood Manager und Happiness Beauftragte konzentrieren sich jedoch oftmals auf Aspekte wie Fitnessangebote, Yogakurse oder die Gestaltung von Büroräumen (vgl. Ungeheuer & Nguyen, 2020). Allerdings sind tiefgreifende Aspekte wie das Ausüben sinnstiftender Tätigkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten oder Anerkennung der individuellen Stärken nötig, wenn Mitarbeitende gebunden werden sollen. Wir brauchen also weniger Oberflächlichkeit und Kurzfristigkeit und mehr Tiefe und Nachhaltigkeit, wenn wir binden wollen.

Ah, super – dann machen wir nun auch so ein Mitarbeiterbindungsprogramm!

Vorsicht vor der Gießkanne

Eine weitere Stolperfalle ist das Einführen einer “One-Size-Fits-All”-Methode, denn wir brauchen gerade das Gegenteil von einer Musterlösung: mehr Flexibilität und Individualität, wenn es um Arbeitsbedingungen geht (vgl. hrb, 2021). Die individuellen Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen der Teammitglieder zu berücksichtigen, ist ein sehr relevanter Erfolgsfaktor, der zwischen Bindung und Gehen entscheidet. Das soll nicht bedeuten, von nun an grundsätzlich eine Rundum-Wellness-Oase oder einen Ponyhof zu schaffen, denn das Arbeitsleben ist nicht immer ein Ponyhof – und soll es auch gar nicht sein. Es geht darum, Anreize zu schaffen, die neben den klassischen Benefits einen wirklichen Mehrwert im Leben der Mitarbeiter:innen schaffen. Dazu gehört auch, überhaupt ein Umfeld zu schaffen, das auf persönliche Präferenzen eingeht, denn die sind unterschiedlich und facettenreich:

Sven sind flexible Arbeitszeiten wichtig, um seinem ehrenamtlichen Engagement im Tierschutz nachgehen zu können. 

Maya legt großen Wert auf ihre persönliche und berufliche Entwicklung und freut sich über attraktive Weiterbildungsmöglichkeiten. 

Nelson möchte sich stärker einbringen und schätzt, dass er im abteilungsübergreifenden Quality Circle aktiv etwas vorantreiben kann.

Mitarbeiterbindung aufpeppen: HR und Führungskräfte rocken das Haus!

HR-Abteilungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Mitarbeiterbindung. Im Sinne der Positiven Psychologie und Positive Leadership können sie gemeinsam mit den Führungskräften folgende Maßnahmen ergreifen:

  • Perspektiven weiten: Kontinuierliche Weiterbindungs- und Entwicklungsmöglichkeiten ermöglichen es, Mitarbeiter:innen Wachstumsperspektiven zu bieten. Und nun kommt ein Twist, ein Mindset-Shift: Es geht nicht (mehr) zwingend darum, die Mitarbeiter:innen im Team zu behalten. Die Frage sollte lauten: Was können wir als Arbeitgeber:in tun, um die Person im Unternehmen zu halten? Der Fokus liegt also mehr auf Entwicklung, auf Fortschritt, anstatt darauf, die Person zwingend ins nächste Hierarchielevel zu befördern (vgl. hbr, 2022).
  • Die Horizontale ausweiten – statt nur die Vertikale: Es ist an der Zeit, veraltete Denkweisen zu durchbrechen und traditionelle Karriereleitern in neue Pfade umzudrehen. Beförderung wird so zu einer Option, aber ist längst nicht als das Belohnungssystem schlechthin zu betrachten und zu kommunizieren. Es können z.B. neben der klassischen Karrierelaufbahn “nach oben” auch Expertenlaufbahnen angeboten werden. Um herauszufinden, was Peter, Lisa oder Shane brauchen, um zufrieden mit ihren Rollen zu sein und um ihr volles Potenzial auszuleben, sind regelmäßige (planmäßige und außerplanmäßige) Nachfragen wichtig für Führungskräfte und ihre Mitarbeiter:innen.
  • Stärkenbasiertes Personalmanagement: HR kann gemeinsam it den Fachbereichen die individuellen Stärken der Mitarbeitenden identifizieren und sie gezielt in Projekten und Aufgaben einsetzen. Das schafft Wertschätzung und ist Wiederrum ein idealer Nährboden für Potenzialentfaltung. Das fängt bereits beim Recruiting an und zieht sich durch den gesamten Employee Life-Cycle. Stärkenbasiertes HR Management ist einer der Schlüssel erfolgreicher, nachhaltiger Mitarbeiterbindung.

Positive Leadership betritt die Bühne

Es gibt jedoch einen Faktor, der sich auf Sven, Maya und Nelson auswirkt: Positive Leadership. Positive Führung hat einen signifikanten Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit und folglich auf die Mitarbeiterbindung (vgl. Ebner , 2019). Dieser evidenzbasierte Führungsansatz ist als ergänzend zu den klassischen Führungsstilen zu betrachten. Es ist eine stärken- und ressourcenorientierte Haltung, die u. a. durch Wertschätzung, Engagement und Inspiration geprägt ist. Positive Leadership hat einen direkten Einfluss auf die Bindung der Mitarbeiter:innen an das Unternehmen und beantwortet z. B. die Frage, was Führungskräfte von High-Performance-Teams anders machen. Positive Leadership fördert eine positive Feedback- / Fehlerkultur, wertschätzende Kommunikation und teilt eine klare, inspirierende Vision über Ziele und Werte. Wenn Mitarbeiter und Teams verstehen, wofür sie arbeiten , sich in ihrer Einzigartigkeit gesehen fühlen, Wertschätzung erfahren und starke Beziehungen auf- und ausbauen können, arbeiten sie produktiver, leistungsstärker und zufriedener. Positive Leadership kann somit eine wichtige Rolle bei der Stärkung der Mitarbeiterbindung spielen.

Positive Leaders als Helden der Mitarbeiterbindung

Was können Führungskräfte tun, um auf das Zufriedenheitskonto ihrer Mitarbeiter:innen einzuzahlen? Hier sind einige Tipps:

Positive Emotionen fördern: Führungskräfte können Emotionen wie Stolz, Inspiration oder Freude bei ihren Mitarbeitenden fördern, indem sie Anerkennung und Wertschätzung zeigen. Wie wäre es z. B. mit einem informellen Dankeschön-Post-It für Jennys Einsatz oder eine Tafel von Svens Lieblingsschokolade als kleine Überraschung – einfach nur so?

Inspirierende Vision teilen: Positive Leader haben eine klare Vision für ihr Team bzw. für das Unternehmen. Indem sie diese Vision und Unternehmensziele klar kommunizieren, motivieren und inspirieren sie ihre Mitarbeitenden. Diese Transparenz schafft ein Gefühl der Verbundenheit und stärkt die Bindung an das Unternehmen.

Mehr Flow-Erleben durch Stärken: Führungskräfte können Engagement bei Mitarbeitenden stärken, indem sie ihnen Aufgaben geben, die ihren Fähigkeiten, Interessen und Stärken entsprechen. Die Möglichkeit, an einem Mentoring-Programm oder an spannenden Projekten auch außerhalb des normalen “Spielfeldes” teilzunehmen, kann helfen, das Engagement zu steigern.

Das “Wofür” erlebbar machen: HR kann Programme zur Förderung der Unternehmenskultur gestalten, in der das “Wofür” als Basis gelebt wird. Führungskräfte können ihre Mitarbeiter:innen dabei unterstützen, Bedeutung und Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Job Crafting  kann dabei ein hilfreiches Tool sein, um die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit zu erkennen.

Strengths Spotting: Durch den Negativity Bias ist unser Gehirn naturgemäß darauf gepolt, eher das Schlechte zu sehen. Und dadurch liegt auch heute noch der Fokus leider viel zu stark auf unseren Schwächen. Dadurch fällt es auch Mitarbeiter:innen häufig schwer, ihre individuellen Stärken zu erkennen. Auch hier spielen Führungskräfte eine Schlüsselrolle: Im Austausch mit ihren Teammitgliedern sollten sie bei der Entdeckung ihrer eigenen Stärken helfen. Besonders beeindruckend wird es, wenn Führungskräfte aufzeigen, wie der gezielte Einsatz einer bestimmten Stärke dazu beigetragen hat, eine Herausforderung zu bewältigen oder welchen Beitrag die Anwendung der Stärke für das Team geleistet hat.

Diese drei Fragen können u. a. für Strengths Spotting verwendet werden:

  • Worauf bist du in der Vergangenheit stolz?
  • Worauf freust du dich in der Zukunft?
  • Welche Tätigkeiten versetzen dich in einen Zustand der Ruhe, steigern deine Produktivität und ermöglichen es dir, wirklich du selbst zu sein?

Fazit:

Das Binden von Mitarbeiter:innen gewinnt mehr und mehr an Bedeutung, da Recruiting zeit- und kostenintensiv ist. Für nachhaltigen Unternehmenserfolg ist es somit essentiell, Maßnahmen zu ergreifen, die über die oberflächlichen, äußerlichen Anreize wie Obstkörbe und Firmenwagen hinausgehen und stattdessen das Wohlbefinden, die individuelle Entwicklung und die Anerkennung der persönlichen Stärken der Mitarbeiter:innen abzielen. Neben Flexibilität und Individualität bei den Arbeitsbedingungen ist auch die Organisationskultur und das Führungsverhalten ein ausschlaggebender Faktor, wenn es um die Frage geht: “Should I stay or should I go?!” Positive Leadership geht oftmals Hand in Hand mit Mitarbeiterbindung. Indem es positive Emotionen und gelingende Beziehungen fördert, eine inspirierende Vision teilt, sinnstiftende Tätigkeiten fokussiert und es Mitarbeiter:innen ermöglicht, ihre Stärken einzusetzen, ist es ein Schlüsselfaktor für langfristige Mitarbeiterbindung.

Und nun?

Ich bin Silvie Soethe und als Unternehmensberaterin unterstütze ich Unternehmen dabei, ihre Mitarbeitenden langfristig an sie zu binden: Von der Gestaltung des On- und Offboardings, über die Stärkung von Führungskräften bis hin zum ganzheitlichen internen Employer Brandings. Seit knapp 10 Jahren sind Menschen im Arbeitskontext meine Leidenschaft und es macht mir unglaublich viel Freude, etwas zu bewegen. Ich bin davon überzeugt, dass die moderne Arbeitswelt von Mitarbeiter:innen lebt, die sich vielseitig in ihren Stärken, ihren Kernkompetenzen, ihrem Wissen und in ihren einzigartigen Persönlichkeiten aufstellen. Nur so kann dem Fachkräftemangel entgegengewirkt und unternehmerischer Erfolg nachhaltig gestaltet werden.

Credits: Irene Magel | Pixabay | JustDIYTeam | Anke Sundermeier | Startupstock